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Lexikos
versão On-line ISSN 2224-0039
versão impressa ISSN 1684-4904
Lexikos vol.33 Stellenbosch 2023
http://dx.doi.org/10.5788/33-1-1804
REVIEW ARTICLES
Phonostilistische und regionale Variation der deutschen Aussprache in den orthoepischen Nachschlagewerken der dritten Generation
Phonostylistic and Regional Variation of German Pronunciation in the Third-generation Orthoepic Dictionaries
Krzysztof NyczI; Zygmunt TęczaII
IInstitut für Germanistik, Universität Rzeszów, Rzeszów, Polen (knycz@ur.edu.pl)
IIInstitut für Germanistik, Universität Rzeszów, Rzeszów, Polen (ztecza@ur.edu.pl)
ABSTRAKT
Mit der Veröffentlichung des Deutschen Aussprachewörterbuchs (2009) und der komplett überarbeiteten siebten Ausgabe des DUDEN-Aussprachewörterbuchs (2015) sind im 21. Jahrhundert zwei orthoepische Nachschlagewerke erschienen, die der aktuellen Landschaft der deutschen Aussprachewörterbücher in vielerlei Hinsicht eine neue Dimension verliehen. Aus diesem Grund halten wir es für gerechtfertigt, diese als Aussprachewörterbücher einer neuen Generation aufzufassen.
Die beiden hier zu analysierenden Wörterbücher zeichnen sich durch neuartige medientechnische Lösungen und die erstmalige Einbeziehung multimedialer Komponenten aus. Vor allem aber präsentieren sie eine gewandelte, deutlich erweiterte und realistischere Auffassung des phonetischen Standards, die der phonostilistischen Vielfalt der deutschen Aussprache Rechnung trägt. Dabei wird auch zum ersten Mal in der deutschen Phonolexikographie die polyzentrische und polyareale Natur des Deutschen anerkannt, indem die Standardaussprachen Österreichs und der Schweiz sowie deren subnationale bzw. regionale Varietäten berücksichtigt und zum Gegenstand der Beschreibung gemacht werden. Diese beiden grundlegenden Neuerungen der zur Debatte stehenden Aussprachewörterbücher werden im vorliegenden Aufsatz einer kritisch-vergleichenden Betrachtung unterzogen.
Schlagwörter: Phonolexikographie, Aussprachekodifizierung, Aussprachewörterbuch, Deutsche Aussprache, Standardaussprache, Phonetischer Standard, Phonetische Variation, Phonostilistische Variation, Regionale Variation, Sprachlicher Plurizentrismus
ABSTRACT
By publishing the Deutsches Aussprachewörterbuch (2009) and the seventh, completely revised and updated edition of the DUDEN Aussprachewörterbuch (2015), two orthoepic reference works have thus far been released in the 21st century that in many respects add a new dimension to the current dictionary landscape in the field of German pronunciation. For this reason, we consider it justified to regard them as pronunciation dictionaries of a new generation.
The two dictionaries to be discussed in this paper are remarkable for their novel editorial solutions and the unprecedented inclusion of a number of multimedia components. But more crucially, they present a changed, significantly expanded and more realistic understanding of the phonetic standard that takes into account the phonostylistic diversity in German pronunciation. Furthermore, and no less importantly, they do also acknowledge, for the first time in German phonolexicography, the polycentric and polyareal nature of German by including the standard pronunciations of Austria and Switzerland, as well as their subnational or regional varieties, and making them subjects of description. These two fundamental innovations of both dictionaries receive a critical comparative examination in the present article.
Keywords:phonolexicography, Pronunciation Codification, Pronunciation Dictionary, German Pronunciation, Standard Pronunciation, Phonetic Standard, Phonetic Variation, Phonostylistic Variation, Regional Variation, Linguistic Pluricentrism
1. Einleitung. Das Ziel der Untersuchung
Die Landschaft der deutschen orthoepischen Nachschlagewerke hat in den vergangenen Jahren eine so wesentliche Bereicherung wie schon lange nicht mehr erfahren. Im Abstand von nur sechs Jahren sind nämlich zwei in jeder Hinsicht moderne Werke erschienen, die der gegenwärtigen deutschen Phonolexikographie eine komplett neue Dimension verleihen. Es handelt sich um folgende Werke:
- Deutsches Aussprachewörterbuch von 2009 (nachstehend DAWB) und
- DUDEN. Das Aussprachewörterbuch (Bd. 6 der DUDEN-Reihe) in seiner jüngsten, komplett überarbeiteten und aktualisierten siebten Auflage von 2015 (nachstehend DU-15).
Dabei hat jedes der beiden Wörterbücher auch seine Vorgeschichte, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht. Das DAWB steht in der Nachfolge des Großen Wörterbuchs der deutschen Aussprache von 1982 (im Weiteren GWDA), welches wiederum eine erweiterte Form des zum ersten Mal 1964 in Leipzig erschienenen Wörterbuchs der deutschen Aussprache darstellte, und geht - wie im Einführungsteil explizit ausgeführt - bei vergleichbarer Zielsetzung von den gleichen konzeptionellen und methodologischen Grundpositionen wie das GWDA aus (vgl. DAWB: 15). Beim DU-15 wiederum ist eine Kontinuität im Verhältnis zu den früheren Ausgaben des DUDEN-Aussprachewörterbuchs von 1962, 1974 und 1990 sowie drei weiteren, um die Jahrtausendwende erschienenen (aber kaum mehr veränderten) Auflagen allein schon durch den redaktionellen Rahmen gewährleistet.
Doch sind die hier zur Debatte stehenden Auflagen von DAWB und DU-15 schon autonome Nachschlagewerke, die durch moderne editorische Lösungen auffallen, neuartige, multimediale Komponenten - dem digitalen Zeitalter entsprechend - enthalten, vor allem aber eine gewandelte Auffassung des phonetischen Standards samt dessen innerer phonostilistischer und geografischer Differenzierung präsentieren und sich zum ersten Mal auch mit der Spezifik der Standardaussprache Österreichs und der Schweiz befassen. All das bewirkt, dass wir sie als Aussprachewörterbücher einer neuen Generation betrachten wollen, und zwar der dritten schon, wenn man die Väter der deutschen Phonolexikographie: Wilhelm Viëtor und vor allem Theodor Siebs mit ihren vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts stammenden Werken als die erste und die oben aufgezählten Wörterbücher aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als die zweite Generation definiert (vgl. Tęcza 2018: 104ff.; zur Geschichte der dt. Phonolexikographie s. auch Tęcza und Nycz 2016: 361ff., Nycz und Tęcza 2020a: 74ff.).
Die zuvor genannten grundlegenden Neuerungen von DAWB und DU-15, nämlich ein differenzierteres Verständnis der Standardaussprache sowie die Berücksichtigung ihrer nationalen und regionalen Varietäten, sollen nun im Folgenden einer kritisch-vergleichenden Betrachtung unterzogen werden. Im Einzelnen ist zu prüfen, wie stark diese neue Deutung des phonetischen Standards von der in den älteren Wörterbüchern vertretenen divergiert und inwieweit der nationalen und der regionalen Dimension der deutschen Aussprache sowohl im Einführungsteil als auch im Wörterverzeichnis jedes der beiden untersuchten Nachschlagewerke Rechnung getragen wird.
2. Die Auffassung des phonetischen Standards
Das Hauptanliegen eines Aussprachewörterbuches ist bekanntlich die Normierung und Kodifizierung dessen, was jeweils als Standardaussprache bzw. Standardlautung verstanden wird. Die beiden Wörterbücher vertreten in dieser Hinsicht zum Teil divergierende Positionen. Im DAWB wird die Standardaussprache gleich zu Beginn des Einführungsteils als „die mündliche Form der Standardvarietät in der Bundesrepublik Deutschland" definiert, die „in geografischer und sozialer Hinsicht über eine weite Geltung [verfügt] und […] insbesondere durch die elektronischen Medien verbreitet [wird]" (DAWB: 6). Die so verstandene Standardaussprache:
- ist dialektneutral, was sich darin zeigt, dass sie keine mundartlichen oder regional gefärbten umgangssprachlichen Aussprachevarianten aufweist; sie kann folglich überregional in allen sozialen Gruppen und von jeder Person mit Deutsch als Muttersprache verstanden werden;
- wird bevorzugt in offiziellen öffentlichen Situationen gebraucht und erwartet, in denen sie auch als „prestigefördernd" empfunden wird;
- ist durch unterschiedliche Grade der Artikulationspräzision gekennzeichnet (= phonostilistisch differenziert), was ihre Anwendung auch im nicht öffentlichen Bereich ermöglicht;
- ist kodifiziert und erfüllt damit eine normative bzw. regulative Funktion; dabei weist sie einen unterschiedlichen Grad an Verbindlichkeit auf, wobei diese vor allem für die soziale Gruppe der Berufssprecher(innen) gilt (vgl. ebd.: 7)1.
Die Autor(inn)en des DU-15 verwenden hierfür den Terminus (bundesdeutsche) überregionale Standardaussprache und beziehen ihn auf die überregionale Aussprachevarietät, wie sie „z. B. in bundesdeutschen Nachrichtensendungen praktisch umgesetzt wird" (DU-15: 30). Sie fügen ergänzend hinzu, dass die fragliche Varietät „heute in großem Umfang auch von nicht in Sprachberufen Tätigen verwendet wird", zugleich räumen sie aber ein, dass sie - obwohl im gesamten deutschen Sprachraum als vorbildhaft akzeptiert - „offensichtlich nur begrenzte Wirkung [hat], da sie von der sprachlichen Allgemeinheit nur teilweise und in von Region zu Region und individuell unterschiedlichem Umfang aktiv umgesetzt wird" (ebd.). Dies resultiert darin, dass die Standardaussprache, wie sie tatsächlich von der Bevölkerung verwendet wird, „auch in formellen Situationen in mehr oder weniger großem Umfang, bei einzelnen Wörtern oder systematisch, von der überregionalen Standardaussprache abweicht" (ebd.). Vor diesem Hintergrund postulieren die Autor(inn)en des DU-15, sämtliche Ausspracheformen, die von deutschen Muttersprachler(inne)n in formellen Sprechsituationen gebraucht und als situationsangemessen eingestuft werden, als standardsprachlich zu betrachten (vgl. ebd.) und damit die Kodifikation auf den tatsächlichen Sprachgebrauch zu stützen. Zugleich wird das im DAWB angenommene Konzept, allein die Aussprache von Berufssprecher(inne)n zur Grundlage der Kodifikation zu machen und damit jegliche Variation auszublenden, explizit kritisiert (vgl. ebd.: 31).
Demnach wird die Standardaussprache im DU-15 durch folgende Merkmale charakterisiert:
- größtenteils überregionalen Charakter: Die Standardaussprache umfasst in der Mehrzahl überregionale Ausspracheformen - aber auch solche, die im deutschsprachigen Raum nur national oder großregional verwendet werden; damit wird das Postulat der Dialektneutralität, wie es im DAWB vorgebracht wurde (s.o.), deutlich abgeschwächt;
- Realitätsnähe: Es ist eine Gebrauchsnorm, die der Sprechwirklichkeit nahekommt und neben der als überregional geltenden Aussprache geschulter Berufssprecher(innen) auch die in der Bevölkerung übliche Standardaussprache berücksichtigt; ihr wird ferner das Merkmal der Schriftnähe zugeschrieben - allerdings mit der Einschränkung, dass sie „im Zweifelsfall auch dem tatsächlichen Sprachgebrauch [folgt], wenn dieser Diskrepanzen zu regelhaften Schreibungs-Aussprache-Korrespondenzen aufweist" (ebd.: 32);
- innere Differenziertheit bzw. Variabilität: Die von der Bevölkerung tatsächlich verwendete Standardaussprache weicht auch in formellen Situationen in mehr oder weniger großem Umfang von der überregionalen Standardaussprache ab (vgl. ebd.: 30).
Das zum Teil unterschiedliche Verständnis des phonetischen Standards im DAWB und im DU‑15 schlägt sich des Öfteren sowohl im deskriptiven Teil der beiden Wörterbücher als auch in deren Wörterverzeichnissen in verschiedener Hinsicht nieder.
3. Das Problem phonostilistischer Differenzierung
Im DAWB wird der Standardaussprache zwar das Merkmal der Überregionalität attestiert, zugleich schließen aber die Autor(inn)en ihre Variabilität und stilistische Vielfalt nicht aus. Diese ergeben sich aus der Tatsache, dass die Standardaussprache in unterschiedlichen sozialen Gruppen, unter vielfältigen kommunikativen Bedingungen und in unterschiedlichen Anwendungsgebieten, d. h. in öffentlichen oder privaten, formellen oder weniger formellen Situationen, genutzt und dementsprechend nicht immer in gleicher Form realisiert wird (vgl. DAWB: 98). Andererseits wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die im gegenständlichen Wörterbuch formulierten Empfehlungen ausschließlich auf Äußerungen in öffentlichen Situationen zutreffen. Da aber auch die Sprechweise in der Öffentlichkeit „unterschiedliche Grade in der Ausprägung von Sprechspannung und Artikulationspräzision" (ebd.: 99) aufweist, werden im DAWB drei phonostilistische Ebenen der Standardaussprache (bzw. drei Grade der Artikulationspräzision oder Varianten der prosodischen Gestaltung) unterschieden:
(1) eine sehr hohe Artikulationspräzision - bei einem feierlichen Vortrag und in der sprechkünstlerischen Kommunikation, etwa beim Sprechen der Schauspieler(innen) auf der Bühne oder Rezitation von Lyrik (vgl. ebd.: 102);
(2) eine hohe bis mittlere Artikulationspräzision - beim reproduzierenden Sprechen wie Vorlesen von Nachrichtentexten in Funk und Fernsehen, beim öffentlichen Vorlesen, bei wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Vorträgen sowie in der sprechkünstlerischen Kommunikation, etwa beim figurendarstellenden Sprechen der Schauspieler(innen) im Theater, Hörspiel, Film, bei Synchronisation und im Bereich der Kleinkunst (vgl. ebd.);
(3) eine verminderte Artikulationspräzision - beim freien Sprechen, vor allem in öffentlich geführten Gesprächen in Funk und Fernsehen (Talkshows), in Film- und Hörspieldialogen, im Kabarett o.Ä., aber auch in nichtöffentlichen, inoffiziellen und informellen Gesprächen im Alltag (vgl. ebd.: 99, 104).
Für jede der drei Stufen werden typische Merkmale, ggf. Abweichungen von den anderen Registern, angeführt und anschließend an einzelnen Beispielen illustriert. Recht detailliert wird dabei auf die Aussprachevariante mit verminderter Artikulationspräzision eingegangen. Für diesen phonostilistischen Bereich werden in zwei relativ umfangreichen Unterkapiteln separat Lautschwächungen im Vokalismus sowie Reduktionen und Assimilationen im Konsonantismus behandelt. Sie werden als „Tendenzen" bezeichnet, die „sich in öffentlich geführten Gesprächen beim Gebrauch der Standardaussprache beobachten lassen", „exemplarischen Charakter [haben]" und „meist nicht alle gleichzeitig [vorkommen]" (DAWB: 105).
Die Beschreibung unterschiedlicher phonostilistischer Varianten in einem Wörterbuch wird dabei wie folgt begründet:
Die Beschreibung phonostilistischer Differenzierungen im Rahmen einer Aussprachekodifikation ist notwendig, weil Verminderungen der Artikulationspräzision, d. h. auch eine Zunahme assimilatorisch bedingter Lautreduktionen, nicht in allen Sprachen nach gleichen Gesetzmäßigkeiten ablaufen. Sie sind daher für den Deutsch lernenden Ausländer ebenso wenig ohne Weiteres erschließbar wie für Sprecher regional gefärbter Umgangssprachen, und sie ergeben sich bei nachlassender Sprechspannung auch nicht von selbst. Umgekehrt bereitet es z. B. der letztgenannten Sprechergruppe häufig Probleme, eine (angemessen) hohe Artikulationspräzision zu realisieren, ohne zu unangebrachten Übertreibungen zu gelangen. (ebd.: 100)
Was die Spezifik der Standardaussprache in besonderen kommunikativen Situationen angeht, so ist im DAWB allein dem Gesang ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Dabei werden vorerst Unterschiede zwischen Sprechen und Singen aufgeführt, die sich auf die Funktion der Sprechwerkzeuge, die Form der Melodieführung sowie den Einsatz der prosodischen Mittel beziehen. Anschließend werden Tendenzen im klassischen Solo- und Chorgesang diskutiert, wie sie etwa bei der Bildung der Vokale und Konsonanten zu beobachten sind. In einem separaten Abschnitt werden Gesangstils in der Populär- und Volksmusik sowie deren Spezifika behandelt.
Varianten mit stark reduzierter bzw. besonders geringer Artikulationspräzision, wie sie etwa „bei nicht öffentlichen, inoffiziellen und informellen Gesprächen zwischen miteinander vertrauten Kommunikationspartnern im Alltags- und Privatbereich gebräuchlich" (ebd.: 104f.) sind, werden dagegen im DAWB nicht mehr berücksichtigt. Da sie „verstärkt fließende Übergänge zu regionalen Umgangssprachen sowie zu Sozio- und Idiolekten" (ebd.: 105) zeigen, scheinen sie nach Meinung der Autor(inn)en in einem Randbereich der Standardaussprache oder sogar bereits außerhalb derselben zu liegen. Ebenfalls unberücksichtigt bleibt die sog. Überlautung, die „z. B. beim Sprechen unter Lärmbedingungen oder auch beim Diktieren im elementaren Deutschunterricht gelegentlich beobachtet werden kann" (ebd.: 100) und die von den DAWB-Autor(inn)en ausdrücklich als nicht zur Standardaussprache gehörend eingestuft wird.
Dabei ist zu betonen, dass die drei o.g. phonostilistischen Ebenen im DAWB, anders als oben aufgeführt, in einer nicht linear-absteigenden Reihenfolge aufgezählt und beschrieben werden. Als erste erscheint nämlich nicht (wie es im GWDA, dem Vorgänger des DAWB, der Fall war) die sehr hohe, sondern die hohe bis mittlere Artikulationspräzision, die in phonostilistischer Hinsicht die mittlere Stufe bzw. Aussprachvariante darstellt. Die Setzung der hohen bis mittleren Sprechspannung und Artikulationspräzision als Kodifizierungsgrundlage ist als eine klare Prioritätenverschiebung im Verhältnis zum GWDA zu bewerten und sie findet nun zwangsläufig sowohl bei der Beschreibung der Aussprachregeln im Einführungsteil des Wörterbuchs als auch bei den Ausspracheangaben im Wörterverzeichnis ihren Niederschlag, wo z. B. geben, baden und legen wegen Elision des Schwa-Lautes [ə] nach Lenis-Plosiven konsequent ausschließlich als [gˈe:bm̩], [bˈa:dn̩], [lˈe:gŋ̍]2, und nicht mehr wie im GWDA alternativ als [ˈge:bm̩] od. [~ bən], [ˈbA:dn̩] od. [~ dən], [ˈle:gŋ̍] od. [~ gən] transkribiert werden.
Im DU-15 wird im Gegensatz zu allen Vorgängerauflagen, in denen verschiedene Formstufen innerhalb der Standardlautung aus Mangel an „einheitlichen und eindeutigen Ergebnissen" (DUDEN 2000: 35) prinzipiell keine Beachtung fanden, der Differenzierung der deutschen Aussprache auffallend viel Aufmerksamkeit geschenkt. Bereits von den ersten Seiten an wird im einführenden Textteil hervorgehoben, dass „im Deutschen auch in der Standardaussprache (d. h. in formellen Situationen) verschiedene Aussprachevarianten gebräuchlich sind" und die Autor(inn)en „es als eine wesentliche Aufgabe an[sehen], solche Varianten zu dokumentieren" (DU-15: 10). Im Kapitel zur Standardaussprache des Deutschen, das mit der indiskutablen Feststellung „Variation ist ein Wesensmerkmal aller lebenden Sprachen" (ebd.: 29) beginnt, wird die folgende Position der Verfasser diesbezüglich verkündet:
Die Autoren dieser Neuauflage des Duden-Aussprachewörterbuchs sind [...] der Auffassung, dass für die Dokumentation einer möglichst realistischen Beschreibung der Aussprache des Deutschen eine Erweiterung der als kodifikationsrelevant erachteten Situationen und Sprecher unabdingbar ist. Wir erachten es als sinnvoll und nützlich, Sprachformen, die teilweise von Millionen von deutschen Muttersprachlern ganz selbstverständlich in formellen Sprechsituationen (z.B. im Rahmen des Schulunterrichts von Lehrkräften wie Schülern gleichermaßen) verwendet und als situationsangemessen eingestuft werden, als standardsprachlich (im Sinne eines »Gebrauchsstandards«) anzusehen. Das im englischen Sprachraum schon längst etablierte Konzept, den Sprachgebrauch der »educated speakers« zur Grundlage standardsprachlicher Aussprachewörterbücher (und Grammatiken) zu machen, sehen wir darum auch für das Deutsche als zeitgemäßen Schritt zu einem erweiterten und damit realitäts- und gebrauchsnäheren Standardsprachkonzept. (ebd.: 30f.)
Dieser Deklaration zufolge scheint den Autor(inn)en des DU-15 besonders daran gelegen zu haben, ein möglichst differenziertes und dabei realitätsnahes Bild der Aussprache des Deutschen in formellen Situationen zu liefern. Im Gegensatz zum DAWB wird hier keine hierarchische phonostilistische Schichtung postuliert; stattdessen erfolgt in einem separaten Kapitel eine konzise lineare Darstellung von relevanten Varianten und Variationsphänomenen innerhalb der Standardaussprache. Insgesamt werden rund vierzig verschiedene Phänomene dieser Art im Bereich der Vokale, Konsonanten und schließlich in den Nebensilben diskutiert. Man erfährt beispielsweise, dass der Glottisschlag in Süddeutschland viel seltener als im übrigen Bundesgebiet vorkommt und in Österreich und der Schweiz weitgehend ungebräuchlich ist (vgl. DU-15: 63); dass die hohen Kurzvokale /ɪ ʏ ʊ/ in Österreich und in der Schweiz geschlossen und gespannt, dabei aber offener/zentralisierter als die entsprechenden Langvokale /i y u/ artikuliert werden; dass die halboffenen Kurzvokale /ɛ œ ɔ/ in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz geschlossener, also wie /e ø o/ gesprochen werden; dass die beiden Vokale /a/ und /a:/ in Österreich oft als vordere und sehr offen artikulierte Laute realisiert werden (vgl. ebd.: 64); dass die Substitution von [ɛ:] durch [e:] in Nord- und Ostdeutschland sowie in Österreich allgemein ist, in der Schweiz aber konsequent zwischen [ɛ:] und [e:] unterschieden wird (vgl. ebd.: 64f.); dass in Nord- und Mitteldeutschland in vielen einsilbigen Wörtern mit theoretisch langem Vokal auch ein Kurzvokal gebräuchlich ist (Rad [rat], Bad [bat], Tag [tak] usw.; vgl. ebd.: 65); dass es in Ost- und Südösterreich oft zur Nasalisierung von Vokalen vor einem Nasal kommt, usw.
Im Bereich der Konsonanten werden v. a. Assimilationen, plosivische Verschlusslösung von auslautendem [ŋ] als [ŋk] in Norddeutschland, [ç]/[x]- oder [ç]/[ʃ]-Variation entsprechend in Österreich/Süddeutschland und in Mitteldeutschland, Nichteintreten der Auslautverhärtung in Österreich, Süddeutschland und der Schweiz, [s]/[ʃ]-Variation vor [t] und [p] im Silbenanlaut, Lenisierung von Fortiskonsonanten im Inlaut (vgl. ebd.: 67-72) usw. detailliert besprochen.
Bei dem Nebenton beziehen sich die Ausführungen u. a. auf variierende Realisationen des Schwa-[ə] in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz, variierende Vokalquantität in einigen deutschen Suffixen (-tum, -sam, -ik, -it, -iz) oder Variation zwischen gespannten und ungespannten Vokalen in unbetonten Silben vor dem Hauptakzent (vgl. ebd.: 72f.).
Als Auswahlkriterien für die zu berücksichtigenden Variationsphänomene galten den Autor(inn)en primär „Vorkommenshäufigkeit und großregionale bzw. nationale Verbreitung" (ebd.: 63), wobei der Gebrauch einer Variante in formellen Sprechsituationen ein zentraler Maßstab für die Einstufung als standardsprachlich war. Dass die Grenzen des phonetischen Standards hierbei weiter denn je zuvor gezogen sind, ist an einigen im besagten Kapitel aufgeführten Ausspracheformen zu erkennen, deren postulierte Richtigkeit - oder eben Standardzugehörigkeit - vielen gebildeten Muttersprachler(inne)n wohl ziemlich suspekt vorkommen wird, wie etwa [ta:x], [tak] und [tax] neben dem evidenten [ta:k]; [fli:çt] neben [fli:kt]; [dɪŋk] neben [dɪŋ]; [e:s] neben [ɛs]; [beˈdarf] und [geˈmaxt] neben [bəˈdarf] und [gəˈmaxt]; [vəɪ̯s] (als Farbbezeichnung) neben [vaɪ̯s] u.a. Die Autor(inn)en fügen ergänzend hinzu:
Einige der hier aufgeführten Varianten werden von Berufssprecher(inne)n nicht oder nur selten verwendet, sind aber in der Bevölkerung weit verbreitet. Die Zusammenstellung enthält sprachliche Merkmale mit unterschiedlicher perzeptiver Auffälligkeit, unterschiedlicher geographischer Reichweite und (mit den beiden Aspekten verbunden) unterschiedlicher soziolinguistischer Akzeptanz. (ebd.: 63)
Die im Einführungsteil des Wörterbuchs aufgeführten diversen Varianten der Standardaussprache kommen allerdings nur begrenzt im Wörterverzeichnis des DU-15 zum Tragen, da sie hier „aus darstellungsökonomischen Gründen [...] weitgehend ausgeblendet werden" (ebd.: 32) mussten. Einschlägige Angaben erscheinen vor allem in den sog. Infokästen, in denen mehrheitlich entweder statistische Ergebnisse einer Umfrage zur Akzeptanz alternativer Aussprachevarianten durch die Sprachbenutzer(innen) gezeigt oder solche alternativen Varianten kurz diskutiert und problematisiert werden (vgl. Abb. 1 und 2).
Wie die meisten der oben angeführten Beispiele eindrücklich zeigen, geht die phonostilistische Differenzierung des Standards in der Darstellung des DU-15 fast immer mit einer territorialen Zuordnung der gegebenen artikulatorischen Variante einher, oft wird sie gar von der letzteren dominiert. Auf die plurizentrische Natur des Deutschen und die Darstellung dessen nationaler und regionaler Varietäten in den zur Debatte stehenden Aussprachewörterbüchern wird nun ausführlicher im nächsten Abschnitt eingegangen.
4. Reflexe des Plurizentrismus und der regionalen Variation der Standardaussprache
Der Plurizentrismus der deutschen Sprache bedeutet, dass sie zwar alle deutschsprachigen Gebiete verbindet, dabei jedoch weder in geschriebener noch in gesprochener Form einheitlich ist (vgl. DAWB: 229)4. Vielmehr besteht sie aus territorialen Varietäten, die in Deutschland, Österreich, der deutschsprachigen Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol gesprochen werden. Als nationale Vollzentren der deutschen Sprache gelten dabei Deutschland, Österreich und die Schweiz, weil dort „die standardsprachlichen Besonderheiten in eigenen Nachschlagewerken, vor allem Wörterbüchern, festgehalten und autorisiert sind" (Ammon et al. 2016: XXXIX). Dessen ungeachtet stand in Aussprachewörterbüchern des Deutschen noch bis vor kurzem traditionell die bundesdeutsche Standardaussprache nicht nur im Mittelpunkt, sondern sie war gar der einzige Gegenstand der Beschreibung, ohne dass auf die anderen Varietäten überhaupt eingegangen wurde. Dies gilt auch für die Vorgänger der zur Debatte stehenden Aussprachewörterbücher (GWDA und sämtliche früheren Ausgaben des DUDEN-Wörterbuchs), in denen die Betrachtung der nationalen Varietäten ausgeblieben ist5.
Einen Durchbruch in dieser Hinsicht hat erst das 2009 erschienene DAWB gebracht, das der Standardaussprache in Österreich und der Schweiz zum ersten Mal gebührende Aufmerksamkeit schenkt. Den Wandel trägt dann auch das DU-15 mit, indem es Deutsch als eine pluri- bzw. polyzentrische Sprache anerkennt und die phonetischen Eigentümlichkeiten der oben genannten nationalen Varietäten, wenn auch in anderer Weise und in kleinerem Umfang als das DAWB, dokumentiert.
Im DAWB erfolgt die Beschreibung der österreichischen und der schweizerdeutschen Standardaussprache in zwei autonomen, relativ umfangreichen Hauptkapiteln im Einführungsteil (entsprechend Wiesinger 2009 und Haas und Hove 2009). Für das österreichische Deutsch werden zunächst - unter deutlichem Rückgriff auf die bereits für die Standardaussprache Deutschlands vorgenommene phonostilistische Dreiteilung - drei Register unterschieden:
- Register I: die gehobene Standardaussprache geschulter Sprecher(innen),
- Register II: die gemäßigte Standardaussprache geschulter Sprecher(innen),
- Register III: die Standardaussprache der Laien (vgl. DAWB: 235).
Die Register I und II werden „im Österreichischen Rundfunk und Fernsehen (ORF) von Ansager(inne)n, Nachrichtensprecher(inne)n und Moderator(inn)en verwendet" (ebd.), wobei je nach Typ der Sendung Sprecher(innen) mit unterschiedlichen Registern eingesetzt werden können (z. B. Sprecher(innen) mit Register I meist in literarischen Sendungen und Hörspielen; Moderator(inn)en mit „oft nur geringer oder keiner Sprechausbildung" (ebd.), d. h. mit Registern II/III, in spezifischen Sendungen). Was trotz der Unterschiede Akzeptanz bei der Bevölkerung garantiere, sei die österreichische Herkunft der Sprecher(innen) und ihre heimische Intonation (vgl. ebd.). Demgegenüber gilt das Register III als regionales Hochdeutsch, in das „individuell auch umgangssprachliche und teilweise sogar einzelne unmittelbare dialektale Lautungen einfließen [können]" (ebd.). Dieses spiele in Rundfunk und Fernsehen insofern eine Rolle, als es von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus dem politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Umfeld verwendet wird.
Auf diese Gliederung folgt im besagten Kapitel eine - wie von dessen Autor erklärt - deskriptive, nicht präskriptive Darstellung von Aussprachephänomenen verschiedener Art. Die Bestandsaufnahme umfasst:
(a) registerspezifische Realisierung von kurzen und langen Vokalen, u.a. Qualitätsunterschiede zwischen [i] - [u] - [y] und [i:] - [u:] - [y:], [ɛ] - [ɔ] - [œ] und [e:] - [o:] - [ø:], [a] und [a:], Realisierung von langem <ä>, Diphthongen und Nasalvokalen,
(b) Besonderheiten im Bereich der Konsonanten, die v. a. die Intensität der Plosive und Frikative, Abweichungen in der Realisierung von <l>, verschiedene Artikulationen von <r> sowie Assimilierungen bzw. Tilgungen von Konsonanten betreffen,
(c) abweichende Realisierung von den <e>-hältigen unbetonten Nebensilben und des Suffixes <-ig> sowie
(d) Besonderheiten bei der Aussprache von Fremdwörtern und bei der Akzentuierung.
Darüber hinaus enthält das der Standardaussprache in Österreich gewidmete Kapitel ein alphabetisches Verzeichnis von insgesamt 90 Fremdwörtern bzw. zusammengesetzten und abgeleiteten Erbwörtern, die eine von dem bundesdeutschen Standard abweichende Akzentuierung aufweisen.
Anschließend wird die österreichische Standardaussprache - „da die Register I und II als gehobene und gemäßigte Standardaussprache mehr oder minder geschulter Sprecher breite Akzeptanz in ganz Österreich finden, während Register III als ,regionales Hochdeutsch' der Laien in seinen Varianten auf Teilräume beschränkt ist" - als ein „Kompromiss aus I und II" (ebd.: 252) definiert und beschrieben. Die daraufhin formulierten „Empfehlungen für eine österreichische Standardaussprache" (ebd.) betreffen sämtliche vorstehend erwähnten Ausspracheerscheinungen und haben in diesem Fall schon präskriptiven Charakter.
Das Kapitel zur Aussprache in der deutschsprachigen Schweiz ergibt indessen ein weitgehend anderes Bild. Gleich zu Beginn wird ausdrücklich betont, dass in der Schweiz im mündlichen Sprachgebrauch der Dialekt dominiert und die Deutschschweizer(innen) im Alltag ausschließlich ihren alemannischen Dialekt sprechen. Die schweizerische Standardsprache wird hingegen „im mündlichen Bereich in der Schule, in offiziellen Situationen und in künstlerischen Darbietungen verwendet und [...] mit Personen aus Deutschland oder Österreich und mit Fremdsprachigen gesprochen" (ebd.: 259f.). Ferner wird darauf hingewiesen, dass „Übergangsformen zwischen dem Dialekt und der Standardsprache, also regional gefärbte Umgangssprachen, wie sie in anderen Teilen des deutschen Sprachraums vorkommen" (ebd.), in der Schweiz nicht existieren. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass im DAWB für die Aussprache in der Schweiz keine innere phonostilistische Stratifizierung, die der zuvor beschriebenen Schichtung des bundesdeutschen und des österreichischen Standards analog wäre, vorgeschlagen wird.
Abgesehen von dem in der Kapitelüberschrift verwendeten Ausdruck (Standardaussprache in der deutschsprachigen Schweiz) ist in den weiteren Ausführungen auch kaum von einer schweizerischen Standardaussprache die Rede. Stattdessen wird der Terminus Aussprachekonvention benutzt:
Innerhalb der Deutschschweiz besteht eine recht weitgehende Übereinkunft darüber, welche Aussprachevarianten für die schweizerische Standardsprache angemessen sind und welche nicht. Es existiert eine Konvention, die nicht von jemandem festgelegt wird, sondern dadurch entsteht, dass die Mitglieder einer Gruppe - in diesem Fall die Deutschschweizerinnen und ‑schweizer - ganz allgemein gesehen zu Konformität im Verhalten neigen. Diese Konvention [...] umfasst ein Set von Varianten, die in der entsprechenden Gemeinschaft als angemessen und unmarkiert gelten. Die Übereinkunft darüber, welche lautlichen Varianten für die Schweizerinnen und Schweizer bei der Verwendung der Standardsprache angebracht sind, wird hier als Aussprachekonvention bezeichnet. (ebd.: 260)
Zugleich heben der Autor und die Autorin des betreffenden DAWB-Kapitels hervor, dass die so definierte Aussprachekonvention „keineswegs rigide" sei und „in vielen Bereichen Variationen" (ebd.) zulasse, ihre Existenz aber dazu führe, „dass sich die Deutschschweizer wesentlich einheitlicher verhalten, als sie es tun würden, wenn keine solche Konvention existierte" (ebd.: 261). Die für die Schweiz empfohlenen Aussprachevarianten umfassen einerseits Formen, die mit dem bundesdeutschen und österreichischen Standard übereinstimmen, und andererseits solche, die von jenem Standard abweichen:
Gewisse Aussprachevarianten, die in Deutschland nicht üblich sind, werden in der Schweiz durchaus als standardsprachlich erachtet. Umgekehrt wird die Verwendung bestimmter Deutschland-spezifischer Varianten durch Deutschschweizer als unangemessen bewertet. (ebd.)
Bei der Einbeziehung zusätzlicher, für die Schweiz empfohlener Varianten dienen ihre Vorkommenshäufigkeit und Eindeutigkeit bzw. Verständlichkeit als Kriterien; berücksichtigt werden also Varianten, die „in der Standardsprache gebildeter Deutschschweizer eine gewisse Häufigkeit haben und welche die Verständlichkeit nicht beeinträchtigen" (ebd.: 262).
Ähnlich wie im Kapitel zur Aussprache in Österreich folgen auf diese einführenden Überlegungen zur Sprachsituation in der deutschsprachigen Schweiz Aussprachehinweise für dieselbe. Die Darstellung umfasst zuerst Besonderheiten im Bereich der Vokale (u. a. das Ausbleiben des Glottisschlags im absoluten Wortanlaut, nach Präfixen und in Zusammensetzungen, landesspezifische phonetische Realisierung von Lang- und Kurzvokalen, a-Lauten und Diphthongen), dann der Konsonanten (intervokalische Konsonanten, Lenis-Plosive im absoluten Auslaut, vor einem Vokal bzw. vor Sonoranten, ferner die s-, r-, ich- und ach-Laute und die Buchstabenverbindung <qu>), bei den Affixen und Fremdwörtern sowie Besonderheiten im Bereich der Wortakzentuierung. Zum Abschluss enthält das dem Schweizerdeutsch gewidmete Kapitel des DAWB eine transkribierte Wortliste mit gut 200 Einträgen, die die phonetische Eigenart dieser Varietät anschaulich illustrieren.
Eine derart komplexe und geordnete Darstellung der Standardaussprache in Österreich und in der deutschsprachigen Schweiz liegt im DU-15 hingegen nicht vor. Dafür gehen die Autor(inn)en dieses jüngsten Wörterbuches an einer Stelle explizit auf die beiden genannten Kapitel des DAWB ein, und zwar mit einem wohl als anerkennend zu deutenden Hinweis auf die Berücksichtigung der nationalen Varietäten und deren ausführliche Darstellung im DAWB sowie vor allem auf die Orientierung der Kodifikation am reellen Sprachusus:
Kodifikationen dieser Art, die sich primär auf den tatsächlichen Sprachgebrauch von nicht in Sprechberufen Tätigen stützen, sind für das Deutsche im Bereich der Aussprache bereits von Walter Haas / Ingrid Hove (2009) für die Standardaussprache in der deutschsprachigen Schweiz sowie von Peter Wiesinger (2009) für die Standardaussprache in Österreich vorgelegt worden. Die beiden genannten Darstellungen sind selbstständige Beiträge im Einleitungsteil des von Krech et al. (2009) erarbeiteten »Deutschen Aussprachewörterbuchs«. (DU-15: 31)
Daraufhin wird unter Rückgriff auf Haas und Hove (2009: 259) als Fazit festgehalten, dass die Orientierung am wirklichen Sprachgebrauch „ein gewisses Maß an Variation [zulässt]" und die Berücksichtigung der „Besonderheiten der deutschen, der österreichischen und der schweizerischen Standardsprache" (DU-15: 31) zur Folge hat. Diese werden dann in der Tat im besagten Kapitel zur Variation in der Standardaussprache dokumentiert. Die Darstellung erfolgt hier allerdings nicht nach Regionen - wie dies im DAWB der Fall war -, sondern nach Aussprachephänomenen. Die einzelnen Aussprachvarianten werden dabei entweder einer nationalen (Deutschland, Österreich, Schweiz) oder einer großregionalen (Norddeutschland, Mitteldeutschland, Süddeutschland; Süden des deutschen Sprachraums) bzw. regionalen (Thüringen, Sachsen; Nordbayern, Südbayern, Ostbayern etc.) Varietät des Deutschen zugeordnet, bis hin zu kleinräumlich verbreiteten, territorial sehr begrenzten (Sub‑)Varietäten (z. B. absoluter Nordwesten Deutschlands, Ostfriesland, Küstenregionen Norddeutschlands, Südrand Deutschlands; Süd- und Ostrand Bayerns u. Ä.). Auch innerhalb der österreichischen und der deutschschweizerischen Nationalvarietät sind immer wieder Hinweise auf den Status der jeweiligen Aussprachevariante in den regionalen Subvarietäten (Westschweiz, Westösterreich, Südösterreich, Tirol) zu finden6.
Auf konkrete regionale Differenzen wird ebenfalls - wie bereits im vorigen Abschnitt angedeutet - in den im Wörterverzeichnis des DU-15 verstreuten Informationsmodulen hingewiesen. Diese bringen zum einen prozentuale Ergebnisse einer Online-Umfrage zur Akzeptanz alternativer Aussprachevarianten ausgewählter Wortformen (wie z. B. Mädchen, Mathematik, Nische, stilistisch), deren Teilnehmer(innen) verschiedene Regionen Deutschlands, Österreichs und der alemannischen Schweiz repräsentierten. Zum anderen werden in den Infokästen nationale bzw. (groß-)regionale Aussprachevarianten aufgeführt und kurz diskutiert (z.B. höchst, vier, un-, -ig; vgl. Abb. 3).
Entsprechend markierte nationale, d. h. österreichische und schweizerische, sowie (groß‑)regionale Aussprachevarianten finden sich darüber hinaus gelegentlich auch im Wörterverzeichnis innerhalb einzelner Lemmata. Vergleicht man z. B. Einträge wie Herd oder Chemie im DAWB, die jeweils lediglich aus dem in Alphabetbuchstaben geschriebenen Stichwort und dessen Transkription bestehen (Herd he:ɐt, Chemie çemˈi:), so fallen deren Pendants im DU-15 wesentlich informativer aus (s. Abb. 4 und 5):
Sowohl im einführenden Textteil als auch im Wörterverzeichnis wird zudem im DU-15 mit relativierenden Quantifikatoren vor Regionalangaben gearbeitet (bes., vorw., oft, auch und selten), um die relative Häufigkeit der betreffenden Variante allgemein oder in der spezifizierten Region zu bestimmen (vgl. Abb. 4 und 5; vgl. DU-15: 18).
Auch wenn also im DU-15 auf eine separate Darstellung der deutschen Standardaussprache Österreichs und der Schweiz verzichtet wird, trägt es mit seinen wiederholten Bezugnahmen auf nationale, oft aber auch subnationale und regionale Aussprachevarianten in besonderem Ausmaß der Tatsache Rechnung, dass Deutsch eine polyzentrische und polyareale Sprache ist.
5. Fazit
Das moderne, deutlich erweiterte Verständnis des phonetischen Standards, wie es in den beiden deutschen Aussprachewörterbüchern der dritten Generation - wenn auch in unterschiedlicher Weise und in verschiedenem Umfang - zum Tragen kommt, verdient ohne Zweifel Würdigung. Es schlägt sich zum einen in der größeren Realitätsnähe durch die (Mit‑)Anerkennung niedrigerer phonostilistischer Register als Kodifizierungsgrundlage sowie, besonders im DU-15, (Mit-)Berücksichtigung vieler bisher als nicht-standardkonform angesehener, jedoch in öffentlichen Alltagssituationen tatsächlich verwendeter Aussprachevarianten nieder. Zum anderen findet es seinen Ausdruck in der Sanktionierung der polyzentrischen und polyarealen Natur des Deutschen durch die eingehende systematische Beschreibung der drei nationalen Varietäten (DAWB) bzw. sachliche Bestandsaufnahme subnationaler, groß- und kleinregionaler Aussprachevarianten (DU-15).
Der letztgenannte Aspekt - die solide Auseinandersetzung mit der räumlichen Dimension der (Standard‑)Aussprache - stellt auch im internationalen Maßstab eine bedeutende Leistung dar. Es reicht nur ein flüchtiger Blick auf die drei führenden Aussprachewörterbücher des Englischen - einer Sprache, deren Plurizentrismus und regionale Differenziertheit noch unvergleichlich stärker ausgeprägt sind und somit auch entsprechend mehr Beachtung verdienen müssten -, um sich zu überzeugen, dass sie in dieser Hinsicht den beiden deutschen Nachschlagewerken erheblich unterlegen sind. In den Einführungskapiteln von Jones (2003), Wells (2008) sowie Upton et al. (2003), welche übrigens auch als Ganzes viel bescheidener als die von DAWB und DU-15 ausfallen, wird prinzipiell nur auf die signifikanten Unterschiede zwischen dem britischen Standard (Received Pronunciation bzw. BBC English) und dem allgemeinen US-amerikanischen Usus (General American) eingegangen. Einige Hinweise auf subnationale Spezifika innerhalb der beiden Nationalvarietäten finden sich zwar in Wells (vgl. 2008: XIXff.) und in Upton et al. (hauptsächlich zum Amerikanischen, vgl. 2003: XIVff.), doch sind sie insgesamt sehr knapp gehalten. In den Wörterverzeichnissen wird neben der jeweiligen britischen Aussprache auch die amerikanische angegeben (in Jones und Wells nur, wenn sie von der ersteren abweicht, in Upton et al. durchgehend), sonst gibt es aber keine weiteren Notationen mit geografischem Charakter. Werden bei einem Lemma mehrere britische oder mehrere amerikanische Aussprachevarianten verzeichnet, so geschieht es ohne jegliche räumliche Zuordnung innerhalb der betreffenden nationalen Varietät. Dieser Defizite sind sich die Wörterbuchautor(inn)en wohl bewusst:
A pronouncing dictionary that systematically presented the pronunciations of a range of regional accents would be very valuable, but it would be very much bigger than the present volume and the job of ensuring an adequate coverage which treated all accents as equally important would have taken many years. (Jones 2003: VI)
Wie nun aus der im vorliegenden Beitrag erfolgten Gegenüberstellung von DAWB und DU-15 ersichtlich sein dürfte, ist diese Arbeit für die deutsche Sprache schon in beachtlichem Maße geleistet worden.
Literaturverzeichnis
I. Aussprachewörterbücher (chronologisch, mit Siglen)
GWDA: Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache. 1982. Hrsg. von E.-M. Krech, E. Kurka, H. Stelzig, E. Stock, U. Stötzer und R. Teske unter Mitw. von K. Jung-Alsen. Leipzig: Bibliographisches Institut.
DUDEN 2000: Duden Aussprachewörterbuch. Wörterbuch der deutschen Standardaussprache (= DUDEN Bd. 6). 2000. Bearb. von M. Mangold in Zusammenarbeit mit der Dudenredaktion. 4., neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag.
DAWB: Deutsches Aussprachewörterbuch. 2009. Von E.-M. Krech, E. Stock, U. Hirschfeld und L. Ch. Anders, mit Beitr. von W. Haas, I. Hove und P. Wiesinger. Berlin/New York: De Gruyter.
DUDEN 2015 (DU-15): DUDEN. Das Aussprachewörterbuch (= DUDEN Band 6). 2015. Bearb. von St. Kleiner und R. Knöbl in Zusammenarbeit mit der Dudenredaktion. 7., komplett überarbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin: Dudenverlag.
DUDEN 2015 (DU-15) digital: Duden-Bibliothek Version 6.4.0.0. DUDEN. Das Aussprachewörterbuch. 7., komplett überarbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin: Dudenverlag.
II. Selbstständige Beiträge im Aussprachewörterbuch
Haas, Walter und Ingrid Hove. 2009. Die Standardaussprache in der deutschsprachigen Schweiz. Krech, E.-M. u. a.: 2009. Deutsches Aussprachewörterbuch: 259-277. Berlin/New York: De Gruyter. [ Links ]
Wiesinger, Peter. 2009. Die Standardaussprache in Österreich. Krech, E.-M. u. a.: 2009. Deutsches Aussprachewörterbuch: 229-258. Berlin/New York: De Gruyter. [ Links ]
III. Sekundärliteratur
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Berend, Nina. 2004. Regionale Gebrauchsstandards - Gibt es sie und wie kann man sie beschreiben? Eichinger, Ludwig M. und Werner Kallmeyer (Hrsg.). 2004. Standardvariation: Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache?: 143-170. Berlin/New York: De Gruyter. [ Links ]
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Wells, John C. 2008. Longman Pronunciation Dictionary. (3. Aufl.). Harlow, Essex: Pearson. [ Links ]
1 . Zur Auffassung des phonetischen Standards im GWDA und den älteren Ausgaben des DUDEN-Aussprachewörterbuches s. Tęcza und Nycz 2016: 384ff. sowie Nycz und Tęcza 2020b: 463ff.
2 . Zu der untypischen Markierung des Wortakzents im DAWB Nycz und Tęcza 2020b: 481f.
3 . Alle Abbildungen in diesem Beitrag stammen aus der digitalen Version des DU-15 (s. Literaturverzeichnis).
4 . Nach Ansicht der DAWB-Autor(inn)en wird eine vollkommen einheitliche Sprache auch nicht angestrebt, diese sei „weder notwendig noch sinnvoll", denn es entspreche „einem Bedürfnis der Deutschsprachigen, die in ihrer Sprachgemeinschaft übliche Varietät realisieren zu können" (S. 259). Eine gewisse Variation schließt allerdings die Kodifizierung nicht aus - „(…) eine Kodifizierung [ist] notwendig, denn sie dient im Unterricht und in der Sprachverwendung in Beruf und Alltag als Richtlinie und trägt zur Legitimation von Varianten bei" (ebd.).
5 . Dieser Zustand wurde auch lange Zeit - bis zum Erscheinen des DAWB - verschiedentlich beklagt; vgl. z. B. Back 1995: 282, Berend 2004: 147, Lameli 2005: 500, Ehrlich 2009: 8ff.
6 . So bekommt man beispielsweise zu wissen, dass die mittelhohen Langvokale /e: ø: o:/ vor allem in der Westschweiz häufig offen, ähnlich wie /ɛ: œ: ɔ:/ gesprochen werden; dass das lange /o:/ in Tirol zum Teil zentralisiert gesprochen wird; dass es in Ost- und Südösterreich oft zur Nasalisierung von Vokalen vor einem Nasal kommt usw. (vgl. DU-15: 63ff.).